Menschenleer, voll Menschlichkeit

Josef Ebnöther – Menschenleer, voll Menschlichkeit
Werke 2018-2022

In der Publikation zum Œuvre von Josef Ebnöther (*1937 Altstätten/CH) folgen die Herausgeber detailliert der aktuellen Arbeit des Künstlers.
Ferner werden überraschende Perspektiven auf die Schweizer Kunstgeschichte allenthalben in der Kontextualisierung offenbar, dass expressive Malerei in der Schweiz kaum rezipiert wurde oder als museumswürdig gilt. Die Schubladen in unseren Köpfen öffnen zu wollen, eint die Autoren.

Die durch einen Berliner Privatsammler unterstützte Publikation erscheint anlässlich der Ausstellung „Werke der Zeit“ im Kulturraum RHYBOOT, Altstätten, Schweiz (14. April – 7. Mai 2023) und präsentiert Werke der letzten vier Jahre von Josef Ebnöther (www.josefebnoether.ch).

„Zurückgelegte Gedanken“, Josef Ebnöther, 2021, Foto: © Alexander Bayer, Balgach

Bei Josef Ebnöthers expressiv verschlüsselten Bildern folgen die Autoren dieser Monografie der Werke 2018 – 2022 detailliert den visionären gedanklichen Spaziergängen des Künstlers durch Leben, Landschaft und Kosmos. Das Schaffen von Josef Ebnöther baut ingeniös auf Informel und Abstraktem Expressionismus auf, wurde und wird von ihm jedoch kontinuierlich in eine andere individuelle Richtung weitergeführt. Die Autoren Kleiner, Noritsch und von Wiese stellen fest, dass Ebnöther, Art-Basel-Teilnehmer der ersten Stunde und laut St. Galler Tagblatt einer der bedeutendsten lebenden Künstler der Schweiz, abzugrenzen ist zu den ihn jeweils umgebenden Strömungen. Ebnöther – als ein künstlerischer Antipode zur Zürcher Schule der Konkreten – zum Anlass genommen, werden darüber hinaus die Schweizer Expressiven erstmalig umfassend in den Fokus genommen: Im zweiten Beitrag der Publikation wird herausgezoomt und von Roland Scotti eine überraschend klare Aufklärung darüber geliefert, warum expressive Malerei trotz ihrer internationalen Anerkennung als relevante malerische Stilrichtung in der Schweiz kaum museumswürdig ist.

Der Schweizer Maler Josef Ebnöther, 2022, Foto: © Céline Kuster

Inhalte:
Kapitel 1 MENSCHENLEER, VOLL MENSCHLICHKEIT. NEUERE WERKE VON JOSEF EBNÖTHER von Constanze Kleiner, Jana Noritsch, Stephan von Wiese
Das Œuvre Josef Ebnöthers lässt sich kaum in eine der international etablierten kunsthistorischen Kategorien einordnen. Die Autoren zeigen Verwandtschaften mit diesen Schubladen auf, gleichen sein Schaffen mit den zur jeweilig herrschenden Strömung ab und begründen, warum sie Ebnöther eher als einen abstrahierenden denn einen abstrakten oder etwa informellen Künstler sehen: Ebnöther verschlüsselt seine Narrative und Botschaften mit einem »sehr persönlichen Zeichencode – Malerei wird eine Art bildnerische Geheimsprache« (Klappentext). Sie verdeutlichen, was genau Ebnöther auf welche Art bildgebend abstrahiert und »universell lesbar macht« (S. 12): »Ein Repertoire von immer wieder abgewandelten Zeichenformen zeigt sich bei Ebnöther […] Die Zeichen stehen vor massiven Feldformen aus schwarzen, erdbraunen, weißen Rechtecken, als sei das Bild aus der Vogelperspektive gesehen. Dies ist ein bildnerisches ABC von scheinbarer Nüchternheit, in roher, ja grober Form, auf seine Weise Art brut. Die Bilder des Spätwerks verzeichnen dann eine Aufhellung der Farben, eine Verfeinerung des Strich-Punkt-Gefüges.« (S. 10) Die meist gegenständlichen Titel seiner Werke geben dabei mehr oder weniger deutliche Hinweise auf seine aktuellen Themen und Perspektiven (Familie, Natur(-Schutz), Krieg u.v.m.). »Ebnöther denkt nicht nur in Farben, sondern ebenso in Licht und Architektur« (S. 11): Der immer schon moderne Maler fand nicht nur unmittelbar Unterstützung durch renommierte Schweizer und ausländische Galerien, sondern konnte auch architektonisch-visionär dank seiner Beharrlichkeit eigene Träume verwirklichen.

»Ebnöther hat sich auf besondere Weise und wiedererkennbar eingeschrieben in eine Zwischenzeit. Er ist nicht mehr figürlich und nicht informell, aber diese Nische bespielt er virtuos und eigenständig. Und dies mit einem Vergnügen an seinem unerschöpflichen Vokabular des Lebendigen, das sich unwillkürlich auf den Betrachter überträgt.« (S. 12)
[Zusammenfassung geschrieben von M. Moseke]

Kapitel 2 ABGERISSENE GESCHICHTEN. GEDANKEN ZUR REZEPTION EXPRESSIVER TENDENZEN IN DER SCHWEIZ von Roland Scotti

Roland Scotti, französischer Kunsthistoriker und ehemaliger Museumsdirektor des Kunstmuseum Appenzell, leistet eine Gegenüberstellung der die Schweizer Kunstrezeption mit ihrer strengen formengeometrischen Bildlogik beherrschenden Konkreten versus der untergeordneten Rolle von expressiv, informell, gestisch oder abstrahierend arbeitenden Künstlern: Er zeichnet in seinem Beitrag erstmals die kultur- oder gesellschafts-geschichtlichen Hintergründe des „Sonderfalls Schweiz“ nach, die maßgeblich dafür verantwortlich zeichnen, dass expressive Strömungen hier in den 26 Kantonen schwerlich an Schlagkraft gewannen:

1. Kulturförderung wurde in der Schweiz allenthalben bis in die späten 1980er-Jahre kaum als identitätspolitische Staatsaufgabe betrachtet, sondern den Städten oder gar Einzelpersonen überlassen (vgl. S. 23).

2. Ob dieser »spezifisch schweizerischen Fragestellung: Was kann als Schweizer Kunst gelten, wenn es die einheitliche Schweiz nicht gibt, nicht geben kann oder soll?«, sind Ausstellungen mit »freier« oder »moderner Kunst« eher als jeweils »provokatives Standortmarketing« (S. 24), direkt gekoppelt mit dem Bild einer weltoffenen Schweiz, zu werten (Bsp.: 1992 der auf der Weltausstellung in Sevilla von Harald Szeemann kuratierte Schweizer Kunst-Pavillon, S. 23). Mehr nicht.
3. Zur akademischen und medialen Situation konstatiert Scotti: »Es gab bis in die 1990er-Jahre keine Ausbildungsstätten für Künstler, die den deutschen, italienischen oder französischen Akademien vergleichbar wären; es gab außerhalb der Großstädte keine dominierende Bürgerschicht, schon gar keinen Adel, keine selbst ermächtigte »Elite«, welche den (Kunst-)Geschmack landesweit bestimmt hätte. Abgesehen von Leitmedien wie der »Neuen Zürcher Zeitung« und nach 1945 der Zeitschrift »Du« gab es kaum Printmedien, welche die Deutungshoheit im Feld »Hochkultur« für sich reklamierten. Es gab Kunstgewerbeschulen, Kunstvereine, wenige Museen für moderne Kunst usw., aber vor allem einzelne Künstlerinnen, Einzelkämpfer, Außenseiterinnen, Fremdgänger, die sich in einem ziemlich desinteressierten Umfeld oder gleich im europäischen und später amerikanischen Ausland behaupten durften.« (S. 24)

4. Historisch betrachtet wurde zur nationenbildenden Geisteshaltung, insbesondere der 1930er-Jahre, die jeweils regional tradierte Kunst chiffriert (»Volkskulturen«), nirgends jedoch die »freie« oder »moderne Kunst«. (S. 24)

5. Bislang »unausgesprochen, kaum reflektiert oder diskutiert«, kann laut Scotti durchaus ein konstruiertes Bild von »Kunst, die als »swiss made art« gelten kann« (S. 24)ausgemacht werden: Anhand verschiedener Zitate, Literaturangaben und durch das Beschreiben relevanter Ausstellungen wie »Swiss Made 1 | 2, Präzision und Wahnsinn: Positionen der Schweizer Kunst von Hodler bis Hirschhorn« (2007, Kunstmuseum Wolfsburg, D) oder »Explosions lyriques. Die abstrakte Malerei in der Schweiz 1950–1965« (2009, Kunst-museum Wallis, Sitten/CH), die vorrangig den Konkreten gewidmet waren, belegt der Verfasser das deutliche Fehlen expressiver Schweizer Künstler:innen.

6. Unter Berücksichtigung aktueller Bestrebungen seitens Kuratoren, die Vielfalt finden und dar- bzw. ausstellen (Bsp. Gender, Diversität, Afropäismus u.a.) zu wollen, diagnostiziert er (S. 27) generell die Schwierigkeit, bereits festgeschriebene Kunstgeschichte umzuschreiben.
6a. Über Franz Müller geht Scotti auf Georg Schmidt ein, der die Gründe für den Erfolg der Konkreten und den Nicht-Erfolg der Expressiven im Bedienen Schweizer Stereotypen einerseits (Präzision, Nüchternheit usw.) und mithin den »Verzicht auf jede metaphysische oder esoterische Dimension« der Strömung sowie andererseits die »Anwendbarkeit in der Praxis von Architektur, Gebrauchsgrafik und Produktgestaltung« sah. (S. 28)
6b. Scotti ist das zu eng: Als einen jüngeren, bedauernswerten Fehltritt in der Schweiz sieht er bspw.: »So wurde 2016 vom Genfer Stimmvolk mit großer Mehrheit ein Vorvertrag zwischen der Stadt Genf und der privaten Fondation Gandur aufgekündigt, der es ermöglicht hätte, im dortigen Musée d’art et d’histoire für 99 Jahre eine der größten Sammlungen zum abstrakten Expressionismus seit 1945 zu zeigen. Das Kunsthaus Zürich zeigt erst seit der Eröffnung des Neubaus 2021 mit der Sammlung Hubert Looser ständig eine repräsentative Auswahl zu ebendieser Kunstrichtung, allerdings ganz ohne Schweizer Positionen. « (S. 28) 7. Unter der Zwischenüberschrift MARGINALIEN gibt Scotti stringent weitere rezeptionsbedingte Gründe an, unter anderem, dass nach 1918 »der »pathetische Expressionismus« als autochthon deutsche Kunst wahrgenommen wurde – also als Kunst jener Nation, die für den Ersten Weltkrieg verantwortlich war.« (S. 29). Der Autor beleuchtet im Folgenden die nachkriegszeitliche Rückkehr vieler Kunstschaffender, die ausländische Einflüsse mitbrachten. Er geht auf Carl August Liner, auf Strukturen von Galerien und Privat-sammlungen und die Bedeutung der weichenstellenden GSMBA ein. Und selbstverständlich übergeht er auch die Wirkmacht der Giedions nicht.
8. Schließlich vermutet der Autor zudem einen Grund, warum die »Schweizer Expressionistinnen, ebenso wie die noch selteneren Schweizer Surrealisten, zwischen den beiden sprachmächtigen, auf ihre je eigene Art gut vernetzten Polen »Heimat-Naturalismus« und »Konkrete Kunst« zerrieben und fast unsichtbar« wurden, bei den Expressiven selbst, zumindest, sofern sie einem »Künstlertypus huldigten und huldigen« (S. 30), der dem solitären Genie, das aus der Zeit fällt, das zu Lebzeiten nicht »erkannt« wird, das im permanenten Widerstand gegen alle eine je eigene Kunst erschafft«, entspricht (S. 32).

9. In seinem Epilog schlägt der Autor die Brücke zur eingangs benannten regionalen Zerstückelungen bezüglich der Rezeption expressiver Kunst in der Schweiz, geht näher auf die Ostschweiz und einzelne Kunstschaffende hier ein: So wurden Roswitha Doerig, Carl Walter Liner, Helen Dahm, Ferdinand Gehr und Josef Ebnöther »zwar wahrgenommen, aber nicht unbedingt in den historischen, kunstkritischen und musealen Diskurs aufgenommen, obwohl ihr Werk teilweise weit über das Expressive, das angeblich »Reaktionäre« hinausweist: Die Schublade »regionale Kunst« ließ sich leicht (ab-) schließen – und es liegt an uns, den passenden Schlüssel zu finden.« (S. 32)

[Zusammenfassung geschrieben von Jana Noritsch]

Ausstellungseröffnung Josef Ebnöther in Altstätten/St. Gallen 2023, Foto Jana Noritsch

Buchtitel: Josef Ebnöther – Menschenleer, voll Menschlichkeit – Werke 2018-2022

Herausgeber: Constanze Kleiner, Jana Noritsch, Stephan von Wiese

Autoren: Constanze Kleiner, Jana Noritsch, Roland Scotti, Christian Seefeldt, Stephan von Wiese

ISBN: 978-3-98741-052-9

zweisprachig: Deutsch/Englisch; mit 59 Werken (farbige Abbildungen)

Preis: 28,- EUR (Preisbindung) / 30,- CHF (empfohlener Preis)

Seiten: 96; Umschlag: Hardcover

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