Wolfgang Nestler: „HANDGEHABT“ Variationsobjekte – Plastik immer als Ereignis

Ausstellungsempfehlung: Der Kunstraum Krüger Berlin zeigt Werke aus allen Schaffensperioden von Wolfgang Nestler, kuratiert von Roland Scotti
Eröffnung: Donnerstag 12. Oktober, 19 Uhr, mit einführenden Worten von Roland Scotti, Kunsthistoriker und Kurator, Arbon/CH
Ort: Kunstraum Krüger Berlin, Hohenstaufenstraße 67, 10781 Berlin sowie im Atelier Wolfgang Nestler
Laufzeit: 12. Oktober 2023 – 12. Juni 2024

Wolfgang Nestler, o.T. (1971), 246 × 100 × 2 cm, Stahl, geschmiedet, 17 Stangen ø 0,8 cm, Seil ø 1 cm, Variabel, mit freundlicher Genehmigung des Künstlers und Kunstraum Krüger Berlin

Der erste Blick fällt beim Betreten der Ausstellung im Kunstraum Krüger auf das Objekt „Ein gesperrtes Siegestor“ aus dem Jahr 1975. Präzise und sicher umspannt der Stahl an den Gewindestäben die 34 Holzwürfel – und doch sind wir gewahr: Würde jemand eine Schraube lösen, sähe alles ganz anders aus. Wandert unsere Aufmerksamkeit weiter nach rechts in den Raum, begegnet uns oben abgebildetes o.T., also 17 verschiebbare Stahlstangen an einem Seil. Hier in einer Anordnung, die sich durch den Kurator Dr. Roland Scotti „ereignet“ hat. „Die Plastiken ereignen sich, sie sind ein System“1, befindet der Künstler bereits zu Beginn seiner Laufbahn2 vor fast sechzig Jahren (s.u.). Sie sind zumeist beweglich. Und öffnen in ihrer Beweglichkeit, Bewegtheit oder Bewegung einen eigenen Möglichkeits-Raum3 des Ins-Handeln-Kommens. Oder mit den Worten des Künstlers: „Form wird hier erlebt als Form, die wird, und als Form, die wirkt.“4

Wie unsichtbar bilden sich jeweils individuelle (energetische5) Räume um die einzelnen Werke von Wolfgang Nestler, die tatsächlich zur Handlung animieren – nicht nur anregen, näher zu treten, sondern auch in eine gemeinsame Bewegung mit dem Objekt zu kommen. Und alle Werke im Gesamtspiel korrespondieren ganz unaufdringlich miteinander und mit den Besucher:innen.
Wolfgang Nestler ist ein Bildhauer, der sich jedes Mal von Neuem gemeinsam mit dem Material „auf den Weg macht“6, allerdings ohne es bezwingen zu wollen, sondern vielmehr um ihm die Freiheit zu lassen, mit ihm etwas geschehen zu lassen.
Seinem Mut und seiner Freude am geformten Material gelingt es, die Dinge laufen zu lassen, auf Unvorhergesehenes sogar zu hoffen und selbst in der Position des Entdeckenden zu bleiben.
Es gibt kein vorgefertigtes Konzept, das der Künstler umzusetzen sucht.

Danke für alle Antworten während der Künstler- und Kuratorenführung! V.l.n.r.: Kurator und Kunsthistoriker Dr. Roland Scotti, Christel Blömeke vom Kunstraum Krüger, Bildhauer Wolfgang Nestler, Jana Noritsch in der Ausstellung „Handgehabt“ im Kunstraum Krüger, Foto: Ida Karin Schmitt
Wolfgang Nestler, Der Tisch, den sich die Schwalbe besieht (1980), Stahl, geschmiedet, 105 × 83 × 76 cm, 3tlg.; mit freundlicher Genehmigung des Künstlers und Kunstraum Krüger Berlin7

Beim Aufsetzen der gebogenen Spitze auf den „Tisch, den sich die Schwalbe besieht“, also einem Arbeitstisch, einem Haken und einem Balancestab raunt Wolfgang Nestler: „Hier kann man die Luft spüren, die ein Vogel unter den Flügeln hat.“

Wolfgang Nestler „jongliert mit den Naturgesetzen, und zwar mit einfachsten Mitteln“8, schreibt Michael Hübl 1985. Elektrizität oder Elektrotechnik spielen keine Rolle, so Hübl weiter: „Bei Nestler und Vollmer, bei Weber und Witlatschil fehlt der technische Aufwand. Deren Arbeiten sind in ihrem Aufbau unabhängig von den Hervorbringungen des technischen Zeitalters; die Fertigkeiten historischer Epochen hätten sicher genügt, um vergleichbare Gebilde herzustellen.“ (Im Gegensatz zu Eric Snells »Magnetic Construction with Single Stone« bspw.)9 Ja, hier ist eine andere Suche zu spüren, eine die fernab von technischer Fortschrittsentwicklung gelebt wird.
Als 2017 das 550-Seiten-starke Werkverzeichnis Nestlers erschien, schrieb Kasper König: „Mit minimalem Aufwand und ohne sich in den Vordergrund zu drängen, erzielen sie eine erstaunliche Wirkung – und hinterlassen auch nach der Wahrnehmung ein Echo, eine räumliche Erinnerung. Stets geht von den reduzierten Formfindungen ein spielerisches, transformatives Moment aus. In mehrfachem Sinn stehen sie dabei auf der Kippe, eignet ihnen eine prekäre, oftmals berührende Balance.“10

Weil ich überzeugt bin, dass der Aufwand nicht minimal ist, befrage ich den Bildhauer im Interview, dass sowohl zu Beginn als auch während des gesamten Werkprozesses doch kontinuierlich Überlegungen und Dialoge mit dem Material (zumeist Eisen und Stahl) vonstatten gehen, die beileibe keinen „minimalen Aufwand“ bedeuten? „Richtig, das ist harte Arbeit“, antwortet Wolfgang Nestler, „und heute ist es auch nicht leichter als früher, weil einfach alles fordert: Es gibt keine einzige Stelle eines Objekts, in der ich nicht drin bin. Es gibt also eine Idee, dann kommt der Vorgang des Schmiedens. Und dann verschwindet mein Plan und ist völlig neu! Jedes Mal denke ich in diesen Spannungssituationen: Was passiert jetzt? Immer wieder gibt es diese neuen Momente, in denen eine Form entstehen will. Das ist der Hammer – und manchmal sogar unheimlich. Situationen, in denen ich mich fast auflöse – und loslasse. Denn ich weiß: Es fließt … – wie Wasser, es lässt sich nicht stoppen. Es steigt immer an und will wohin – in eine Form, die es selbst finden will. Man braucht also den gesamten Körper und Geist, auch um sich zu trauen, Fehler zu machen: Die Sache muss aufgelöst werden, es wird einen Weg geben. Aber eben einen Weg, den ich vorher nicht kenne.“11 Dies korrespondiert auch mit dem Titel von Nestlers Werkverzeichnis „Kraft, die niemand fürchtet / Tätige Form / Plastiken 1967-2017“.
Wenn der Schaffensprozess derart intensiv ist, die Form sogar selbst tätig war und das Werk bei Vollendung eine Einladung zur Teilnahme ausspricht, die eine zufällige Anordnung oder neue Gestalt desselbigen provoziert, bin ich mir sicher, gab und gibt es beim vollendeten Werk Wolfgang Nestlers keine Ressentiments bezüglich der künstlerischen Autorschaft als Autoritäts- und Authentifizierungsinstanz, wie wir es aus den Sechzigerjahren kennen, als der quasi demokratisierende Akt durch die Spiel-, Variations- oder Partizipationsobjekte einiger Künstler:innen auf völliges Unverständnis stieß. In der Ausstellung entschied oft der Kurator die Gestalt der variablen Plastik.
Und: Wolfgang Nestlers Werk und Wirken ist in keine klare kunsthistorische Schublade einzusortieren, wie wir drei befinden: Variations- oder Partizipationsobjekte aber ernsthafter und immer unikal, häufig geometrisch aber nie konkret (kein ‚konkretes‘ Konzept), Minimal Art aber doch konstruktivistischer, kein Konstruktivismus, Konzeptkunst ohne Konzept, Fluxus ohne Fluxus, im Werden ein wenig Dada … Gut so, denn damit kann es nicht langweilig werden.

Wolfgang Nestler, o.T. (1983), Stahl, Brennschneidearbeit, 41 × 8,8 × 15 cm, 2tlg., mit freundlicher Genehmigung des Künstlers und Kunstraum Krüger Berlin

„Wie die Formen sich selbst finden – im Dialog mit dem Künstler, seiner Materialkenntnis und seiner Werkerfahrung – ist auch an diesem eher massiv wirkenden Objekt, wie man es von einem traditionellen Stahlbildhauer erwarten würde, zu sehen.“, begründet Roland Scotti seine Wahl der Brennschneidearbeit o.T., oben abgebildet. „Aber der Unterschied zu anderen Künstler:innen ist, dass Wolfgang immer dem Material zuhört. Das Werk findet sich durch die große Offenheit des Künstlers, insofern etwas wie Fluxus – offen sein gegenüber den Dingen, wie sie sich mitteilen. Es gibt also keine rationale Systematik oder ein zugrundeliegendes Konzept, das sich immer wieder erfüllen muss. Vielmehr ist es eine große emotionale Beteiligung des Künstlers, die auch, wenn wir uns die Werke zu ihren Entstehungszeiten anschauen, mit sich verändernden Fragestellungen einhergehen. Bemerkenswert ist hier wirklich der unmittelbare körperliche und seelische Kontakt mit dem Material.“, ergänzt Scotti.

Der Künstler Wolfgang Nestler im Kunstraum Krüger vor seinen Händen (großformatiges Fensterplakat) in der Ausstellung „Handgehabt“ (Foto: Christel Blömeke)

Der Ausstellungstitel „HANDGEHABT“ beinhaltet alles. Und so beschreibt Kurator Roland Scotti im Text zur Ausstellungseinladung die Werke von Wolfgang Nestler, mit dem er 2009 die Ausstellung „Sophies Inseln“12 realisierte (seinerzeit in der Funktion des Kurators und Geschäftsführers der Heinrich Gebert Kulturstiftung Appenzell, Kunstmuseum Appenzell und Kunsthalle Ziegelhütte) wie folgt:
„Einfache und präzise Handhabung als Instrument einer unendlichen Kommunikation – eines ästhetischen, eines gesellschaftspolitischen, eines integrativen und interaktiven Multilogs. Eben Werke, die aus einer partizipativen Haltung heraus entstanden sind; meisterhafte und doch immer improvisierte Gestaltungen, geladen mit einer fast unbändigen Lebensenergie, die obendrein im grundsätzlich probeweisen Ruhezustand, einer lauernden Dynamik, aufblitzt – erst recht, wenn wir endlich selbst im Imaginären oder im Realen handhaben dürfen.“

Wolfgang Nestler ist dankbar für diese schöpferischen Prozesse und Erlebnisse mit dem Material. Und der Beschäftigung mit Fragen wie: „Was ist ein Rand – wo fängt er an, wo hört er auf?“ oder „Wie dünn soll es an jener Stelle sein, was ist dünn? Kriegt es noch Luft?“.
Seine variablen Plastiken, seine Systeme sind allesamt Zeugnisse eines „Glauben[s] an die Welt“13, den wir brauchen. Wir finden ihn, wenn wir uns die Zeit nehmen, hinzuschauen. Die Werke von Wolfgang Nestler sind jetzt und noch bis 12. Februar 2024 ein wunderbarer Anlass.

Übrigens: Im zweiten Ausstellungsraum von „Handgehabt“ findet sich hinten links zusätzlich ein Bildschirm mit Filmmaterial: Hier können Besucher:innen sehen, wie sich die Objekte in bewegter oder veränderter Gestalt darstellen.

Wolfgang Nestler, Ring (1971), Rundstahl, geschmiedet ø1,2 cm, Gummischnur, 160 cm, hoch, ø 57,5 cm, Variabel; mit freundlicher Genehmigung des Künstlers und Kunstraum Krüger Berlin14

Wolfgang Nestler wurde 1943 im hessischen Gershausen geboren und wuchs an der Ruhr auf. Von 1967 bis 1973 studierte er an der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf bei Prof. Erwin Heerich (Meisterschüler).
Als für ihn wichtige Ausstellungen sind zu nennen (Auswahl): 2019 ZKM Karlsruhe, Negativer Raum; 2018 Galerie Wack, Kaiserslautern; 2017 Institut für aktuelle Kunst, Saarlouis; 2009 Sophies Inseln, Hommage à Sophie Taeuber-Arp, Kunsthalle Ziegelhütte, Appenzell; 2006 Was ist Plastik? 100 Jahre-100 Köpfe. Das Jahrhundert moderner Skulptur, Wilhelm Lehmbruck Museum, Duisburg; 1993 Stahlplastik in Deutschland, Moritzburg, Halle; 1987 documenta; 1985 Deutsche Kunst nach 1945, Nationalgalerie Berlin; 1977 documenta 6; 1974 Haus Lange, Krefeld.
Nestlers Arbeiten sind deutschlandweit in öffentlichen Sammlungen vertreten, etwa in der Nationalgalerie Berlin, im Lenbachhaus München, im Wilhelm Lehmbruck Museum Duisburg, im Von der Heydt-Museum Wuppertal, im Kunstmuseum Düsseldorf, in der Staatsgalerie Stuttgart, im Landesmuseum Mainz und im ZKM Karlsruhe. Weitere Informationen auf www.wolfgang-nestler.de.

Öffnungszeiten der Ausstellung
Dienstag, Mittwoch, Donnerstag 17–20 Uhr sowie nach Vereinbarung via bloemeke@ kunstraum-krueger-berlin.com oder telefonisch 49 157 740 186 12.

Text: Jana Noritsch
Fotocredits: © Wolfgang Nestler, fotografiert von von Lutz Hartmann, mit freundlicher Genehmigung des Kunstraum Krüger

Quellen:

  1. Filmportrait „Tätige Form“ von Gabi Heleen Bollinger 2018, 1:03 min, hier anzuschauen ↩︎
  2. Von 1967 bis 1973 studierte er an der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf; er war Meisterschüler bei Erwin Heerich. Gleichzeitig machte er eine Ausbildung zum Schmied.  ↩︎
  3. Im Sinne von „Spielobjekte: Die Kunst der Möglichkeiten“, einer Ausstellung von Anja Müller-Alsbach und Frederik Schikowski im Museum Tinguely 2014, Publikation: ISBN 978-3868284928 ↩︎
  4. s. Filmportrait „Tätige Form“ von Gabi Heleen Bollinger 2018, hier anzuschauen ↩︎
  5. Der Begriff „energetisch“ meint „Energiefelder, Kraftfelder, nicht in einem esoterischen Sinne, sondern sie werden in der Kommunikation des Materials mit uns wirksam.“ Roland Scotti im Interview mit der Autorin 11.10.2023 ↩︎
  6. Roland Scotti (tbd.) ↩︎
  7. siehe auch: Wolfgang Nestler | Kraft, die niemand fürchtet / Tätige Form / Plastiken 1967-2017; Saarlouis 2017; S.416, Abb. S. 181. ↩︎
  8. Kunstforum international, Bd. 80, 1985 „Sinnpause“ ↩︎
  9. ebd. ↩︎
  10. WVZ siehe „Wolfgang Nestler – Kraft, die niemand fürchtet. Tätige Form. Plastiken 1967-2017„, Herausgeber: Jo Enzweiler, Redaktion: Institut für aktuelle Kunst, Verlag: St. Johann, Saarlouis, ISBN: 978-3-9817447-5-0 ↩︎
  11. Wolfgang Nestler im Interview mit der Autorin 11.10.2023 ↩︎
  12. Mehr dazu: https://www.kunstraum-krueger-berlin.com/ausstellungen/aktuell/stoff-ihrer-stoffe/ ↩︎
  13. s. Filmportrait „Tätige Form“ von Gabi Heleen Bollinger 2018, hier anzuschauen ↩︎
  14. Vgl.: Wolfgang Nestler | Kraft, die niemand fürchtet / Tätige Form / Plastiken 1967-2017; Saarlouis 2017; S.397, Abb. S. 112/113. ↩︎

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..